„Guter Schuh als letzte Rettung“

Mittelbayrische-Mitten in Bayern-Guter Schuh als letzte Rettung-2019

Orthopädie-Schuhmachermeister Raphael Pichler geht die Arbeit nicht aus. Die Kunden müssen Wartezeiten in Kauf nehmen.
Von Michaela Schabel (erschien am 25.11.2019 in der Mittelbayrischen Zeitung)

WENG. „Freude“, gepinselt auf eine Wand des Wohnzimmers, ist das Signalwort für Raphael Pichler. Er macht alles mit Freude und Begeisterung und dieses Lebensgefühl strahlt er aus. Die Kunden wissen das zu schätzen, fühlen sich von ihm gut beraten und nehmen lange Wartezeiten in Kauf, denn sie wissen, sie bekommen hier einen Schuh, der wirklich passt.

In der siebten Generation führt Raphael Pichler, 25 Jahre jung, mit seiner Mutter den familiären Schuhmacherbetrieb in Weng in Niederbayern. Urgroßvater Paul Pichler machte während des Zweiten Weltkrieges wegen der vielen Kriegsverletzten eine orthopädische Zusatzausbildung, sein Sohn Paul Pichler junior qualifizierte sich schon zweifach als Schuhmachermeister und Orthopädie-Schuhmachermeister. Auf diesem hohen Niveau führen Tochter Christine und Enkel Raphael den Familienbetrieb weiter.

Enormer Bedarf

Ein Neun- bis Zehn-Stunden-Tag ist für beide normal. Trotzdem strahlen sie um die Wette. Der Beruf macht einfach Sinn, weil er den Menschen hilft. Immer mehr Menschen leiden an Fehlstellungen und Gehbeeinträchtigungen. Die Vererbung ist prozentual betrachtet nicht so bedeutsam, zumal der Klumpfuß inzwischen schon bei Kindern erfolgreich operiert werden kann. Orthopädischer Schuhbedarf entsteht in erster Linie durch höheres Alter und zunehmende Krankheiten, vor allem durch Diabetes und Schlaganfälle. Raphael Pichler erstellt Haltungsanalysen und fertigt danach individuell die Schuhe an. „Schmerzende Füße“ als ärztliche Diagnose genügt allerdings nicht. Nur bei differenzierten Diagnosen zahlen die Krankenkassen.

„Gute Schuhe geben den Patienten ein neues Lebensgefühl“, so Raphael Pichler. „Die dankbarsten Kunden sind immer diejenigen, bei denen es am weitesten fehlt.“ Sie haben weniger Schmerzen, können plötzlich wieder aufstehen, manchmal sogar ohne Stock bzw. Rollator gehen und wieder besser am Leben teilnehmen. Auch Sportler, die mit den Füßen sporteln, zählen zu den Kunden. Sie können durch gute Schuhe oder Einlagen ihre Leistung wie Lauftempo oder Ballnähe optimieren. Das ist inzwischen ganz normal und gilt nicht als Doping. Allerdings macht der Staat familiären Kleinbetrieben das Leben durch die enorm zunehmende Bürokratie schwer. Früher wurde „viel gearbeitet und a bisserl was geschrieben, heute ist es umgekehrt“, konstatiert Raphael Pichler.

„Man hat den Eindruck, der Staat will keine Familienbetriebe mehr. Der Trend geht nur mehr zum globalen Massenprodukt.“

Christine Pichler

Die Abrechnungen mit den Krankenkassen nach den EU-Normen sind explodiert, die Reglementierungen teilweise völlig unsinnig. „Man hat den Eindruck, der Staat will keine Familienbetriebe mehr. Der Trend geht nur mehr zum globalen Massenprodukt“, kritisiert Christine Pichler die politische und gesellschaftliche Entwicklung. Deshalb wollte sie eigentlich nicht, dass ihr Sohn in den Betrieb einsteigt. Aber nachdem er verschiedene Praktika in anderen Berufen absolviert hatte, war ihm die Schuhmacherei doch am sympathischsten, weil er durch seine Arbeit etwas Sinnvolles bewirkt und sich immer wieder weiterbilden kann. Er darf zwar nicht diagnostizieren, aber er kennt jeden Knochen, jede Sehne ab der Hüfte abwärts. Und er weiß genau um die physiologischen Zusammenhänge im Körper, wie Störungen entstehen und wie man helfen kann. Es kommen auch Kunden mit Problemen, die er so noch nie erlebt hat. Dann heißt die Devise „Ausprobieren und experimentieren“, was er im Kundengespräch auch transparent macht. So ist für Raphael Pichler „kein Tag ist wie der andere“. Die meisten Kunden sind an der Grenze zum Rentenalter und darüber, wobei sich Männer und Frauen die Waage halten.

Barfußlaufen als Prophylaxe

Den Füßen wird insgesamt viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Schuhe sind oft nicht passkonform und drücken. Die beste Prophylaxe ist Barfußlaufen, hilft aber nur auf unebenen natürlichen Böden wie Gras, Erde oder Kiesel, weil nur dann die Nerven und Muskeln entsprechend stimuliert werden. Der ideale Alltagsschuh ist nicht flach, sondern sollte einen Absatz von ein bis zweieinhalb Zentimetern haben, damit der Fuß entspannter abrollt und die Kinematik beim Gehen passt.

Der Beruf Orthopädie-Schuhmacher

  • Voraussetzungen:

    Wer diesen Beruf wählt, muss sich um Kundschaft keine Sorgen machen, aber man muss fremde Füße, auch nicht so schöne, anfassen, und Blut sehen können. Man braucht medizinisches Interesse und handwerkliches Geschick, Sozialkompetenz und Empathie sowie Freundlichkeit gegenüber den Kunden. Man muss mit dem Computer umgehen können und vor allem selbst so standfest sein, dass man lange vor den Maschinen stehen kann.

  • Wissen:

    Als Orthopädie-Schuhmachermeister weiß man zwar um die medizinischen Prozesse an den Füßen und Beinen, darf aber nicht diagnostizieren, sondern nur beraten und Rücksprachen mit Ärzten empfehlen. Schuhorthopädische Maßnahmen sind durch Kostenvoranschläge im Vorfeld mit den Krankenkassen abzuklären. Die Landshuter Handwerkskammer ist bislang im süddeutschen Raum die einzige Ausbildungsstätte zum Orthopädie-Schuhmachermeister.

Auf Bestellung macht Raphael Pichler auch ganz normale maßgeschneiderte Schuhe. Der Kunde kann Material, Farbe, Modell auswählen und individuelle Wünsche äußern, muss aber mit Preisen von 1000 Euro aufwärts rechnen. Als Vorzeigeschuhe hat Raphael Pichler für sich selbst ein exquisites Paar Herrenschuhe aus Rochenleder hergestellt. Schon das Material kostete über 1000 Euro, inklusive Arbeitsleistung ist man schnell über 3000 Euro. Aber Pichler liebt es, mit edlen Materialien reine Naturprodukte von höchster Qualität herzustellen. Solche Schuhe hat man ein Leben lang.